"Robert McLiam Wilson: Eureka Street, Belfast": Suff, Liebe, Rebellion und Bombentote - Nordirland hautnah

Das war ein Abend der Hymnen: die Buchnomaden urteilten von "richtig gut" über "wunderbar gezeichnete Charaktere" bis zu "ich war selten so berührt". Die zentrale Szene des Buches, das Bombenattentat auf ein Café in der Belfaster Fountain Street bei dem siebzehn Menschen sterben, galt vielen als brillantes Stück Romanliteratur, das man als Leser, ja Beobachter, hautnah und atemlos miterlebte. Ohnehin steckt McLiam Wilsons Roman voller Szenen, die den Leser bewegen - mal wird die Liebe zu einer Kellnerin verstolpert, Zufallsbekanntschaften mit Milliardären wollen einfach nicht enden oder zwölfjährige Rotznasen können dem prügelnden Vater in eine bessere Welt entkommen. 

Scharfe Richtungswechsel brillant erzählt

Doch kurz zum Inhalt: "Eureka Street, Belfast" erzählt von einer Clique junger Männer (Ende Zwanzig bis Anfang Dreißig) im Belfast der frühen neunziger Jahre. Hauptfiguren sind Chuckie und Jake aus deren Perspektiven die Geschichte erzählt wird. Chukie ist ein veritabler Fettwanst, der im Laufe des Romans mit den wildesten Geschäftsideen (Irische Blumenerde für die USA, Handel mit gebrauchsfertigen Wollmasken usw.) zum Business-Guru und Millionär wird - Heirat mit einer gutaussehenden Amerikanerin, die ihn inbrünstig liebt, eingeschlossen. Jake jobbt als Schuldeneintreiber und als Handlanger auf dem Bau, ist ein geübter Schläger und Menschenfreund, liest Rousseau und verliebt sich im Tagesrhythmus, natürlich ohne Aussicht auf Erfolg, in bildhübsche Kellnerinnen. 

Wie schon bei diesen beiden Hauptpersonen, der eine katholisch, der andere Protestant, lebt der Roman vor dem Hintergrund der Belfaster Unruhen von seinen Gegensätzen - klassische Bildung und wilde Prügeleien, Suff und Sinn für Ästhetik, grober Unfug und feiner Humor, braves Mutterherz und lesbische Liebe mit der Nachbarin. "Eureka Street" ist nicht nur bewegend sondern voller Witz und scharfer Wendungen. Über diese chaotische, aber liebenswerte Welt aus Pubs und Hinterhöfen bricht in der Mitte des Buches das Attentat in der Fountain Street herein, das Jakes Mutter als Augenzeugin und "Mit-Opfer" erlebt. Irrsinn, Sinnlosigkeit und rohe, zerreißende Wucht der Bombe weiß McLiam Wilson so präzise und schmerzhaft mitleidend zu erzählen, das dem Leser ganz klamm wird. Schon der Anfang des Kapitels ist umwerfend: "Rosemary Daye kaute blasenschlagend den dritten Nikotinkaugummi des Tages."

Großer Autor, bisher unbesungen

Doch dem Autor gelingt noch so viel mehr: der Roman ist prall gefüllt mit Geschichten über rätselhafte Graffitis, skurrile Auftritte in US-Talkshows (wieder Chukie) und kamerageilen irischen Lyrikern. Sogar ein Happy-End, jedenfalls für unsere beiden Helden Chuckie und Jake, ist im traumatisierten und kaputten Belfast möglich.

Als die Buchnomaden schließlich die schönsten Szenen im Wiedererzählen noch einmal erlebten war klar:  so begeistert ist man vor allem dann, wenn die Freude unerwartet kommt. Die deutsche Buchkritik hat "Eureka Street, Belfast" bisher offenbar übersehen und der Autor ist in den letzten 25 Jahren vom Buchmarkt fast verschwunden, "Eureka Street, Belfast" von 1996 ist sein bisher letzter Roman. Die Buchnomaden hoffen inständig auf mehr.



Kommentare

  1. Neben einem Eintauchen in mehrere Leben im Belfast der 90er war das auch ein kleine Zeitreise in die "eigenen 90er". Da gabe es noch ganz andere Probleme als Corona ...

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