H. D. Thoreau - Ein paar Kalendersprüche, die in Erinnerung bleiben sollten

Zunächst einmal muss ich feststellen, dass das Buch „Walden“, das tatsächlich nicht ein Roman im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr ein Erlebnisbericht bzw. eine Zusammenstellung und Überarbeitung von Tagebucheinträgen zu verschiedensten Themen, die Thoreau während seines 2-jährigen Waldaufenthaltes (und auch davor und danach) beschäftigt haben, für reichlich Gesprächsstoff und zahlreiche Blogeinträge - nun auch von fast allen Teilnehmern unserer „Gruppe freundlicher Leser, weltfremder Bücherwürmer und weitgereister Kritiker“ (Buchnomade Wassakommake in Beitrag „Wir Nomaden“) gesorgt hat - ist das nicht schön und ist das nicht auch ein Ziel guter Literatur?

Sicherlich hätte sich Thoreau über die rege Diskussion gefreut! Man mag einige Thesen und Ideen Thoreaus als utopisch und nicht genügend begründet ansehen; dennoch wird man zumindest dem Buch „Walden“ nicht gerecht, wenn man es als eine bloße Aneinanderreihung von Kalendersprüchen ansieht oder das beschriebene Experiment als simple Weltflucht eines Priviligierten. Auch die Reduktion des Buches auf ein schönes Aussteiger-Abenteuer würde Thoreau wohl nicht erfreuen. Es gibt tatsächlich sogar ein Outdoormagazin „WALDEN“ mit dem Subtitel „Abenteuer vor der Haustür“ (Link: http://www.geo.de/magazine/walden; dort gibt es dann auch noch einen Link zu einer WALDEN-Playlist bei Spotify - Thorau würde sich vermutlich im Grabe umdrehen).

Für mich persönlich bleiben neben den vielen scharfsinnigen Beschreibungen der Gesellschaft zu Beginn des Industriezeitalters in Amerika (vor nun immerhin mehr als 160 Jahren) und der (sich dadurch verändernden) Natur zahlreiche revolutionäre Einsichten und Feststellungen Thoreaus in Erinnerung. Vielleicht auch deswegen, weil der Großteil der beschriebenen Phänomene heute im Zeitalter der Digitalisierung aktueller denn je ist.

Ein paar Zitate, die für mich gerade die Qualität von Walden ausmachen und sich somit natürlich auch hervorragend als Kalendersprüche eignen würden (die Seitenangaben beziehen sich auf die 11. Auflage der dtv-Taschenbuchausgabe von 2016):

  • Die öffentliche Meinung ist im Vergleich zu unserer eigenen ein machtloser Tyrann. Was der Mensch von sich selbst denkt, ist das Entscheidende , ist das Ausschlaggebende für sein Schicksal. (S. 12)
  • Es ist jedoch nie zu spät, unsere Vorurteile aufzugeben. Auf keine Art des Denkens oder Handelns, wie alt sie auch sei, kann man sich verlassen, ohne sie vorher erprobt zu haben. (S .13)
  • In der Frage der Kleidung - um gleich mit der praktischen Seite zu beginnen - lassen wir uns bei ihrer Anschaffung weit mehr von der Sucht nach Neuartigkeit und der Rücksicht auf die Meinung anderer leiten als von ihrer Zweckmäßigkeit. … Jede Generation lacht über die Moden der Vergangenheit, geht jedoch treu und brav mit der neuen. (S. 27-32)
  • Muß denn der angesehene Bürger wirklich durch würdiges Beispiel und ernste Ermahnungen dem Heranwachsenden die sogenannte Notwendigkeit beibringen, sich mit einer Anzahl überflüssiger Schuhe, Schirme und leerer Gastzimmer für leere Gäste auszustatten, ehe er stirbt? … Obwohl wir noch nicht so degeneriert sind, um nicht auch heutzutage in einer Höhle oder einem Wigwam leben zu können oder Fellkleidung zu tragen, ist es wohl besser, sich der, wenn auch teuer erkauften, Vorteile zu bedienen, die uns der Erfindungsgeist und Fleiß der Menschen anbieten. Hier in der Gegend sind Balken, Schindeln, Mörtel und Ziegel billiger und leichter zu beschaffen als brauchbare Höhlen, ganze Baumstämme … (S. 42-47)
  • und vielleicht bewirkt gerade der, der das meiste Geld und die meiste Zeit für die Armen hergibt, durch seine Lebensweise das Elend, das er vergeblich zu lindern strebt. (S. 85)
  • Wenn wir einmal von einem Mann, der beraubt, ermordet oder zufällig getötet wurde, lesen, einmal von einem Häuserbrand, einem Schiffsunglück, einer Dampferexplosion, von einer Kuh, die von der Western Railroad überfahren wurde, dem Tod eines tollwütigen Hundes, einem Heuschreckenschwarm im Winter - dann brauchen wir so etwas nie wieder zu lesen … Hat man eine Sache einmal im Prinzip kennengelernt, warum sollte man sich dann für ihre zahllosen Wiederholungen und Abarten interessieren? (S. 104)
  • Kinder, die Leben spielen, nehmen seine wirklichen Gesetze und Beziehungen besser wahr als die Erwachsenen, die es nicht würdig zu verbringen wissen, sich aber ihrer Erfahrungen, dass heißt, ihrer Enttäuschungen wegen für klüger halten. (S. 106)
  • Mit der Weisheit wächst überdies ein liberales Wesen. … Alles, was unserer körperlichen Ernährung und Pflege dient, lassen wir uns mehr kosten als unsere geistige Ernährung. Es wäre an der Zeit, Volksschulen für das erwachsene Volk zu gründen, damit wir unsere Erziehung nicht aufgeben, sobald wir zu Männern und Frauen geworden sind. … Man darf nicht bei einem Erzieher, einem Pastor, einem Küster stehenbleiben, bei einer Gemeindebücherei und drei Stadträten, nur weil unsere Ahnen … mit ihnen einmal auf einem blanken Felsen durch einen kalten Winter kamen. (S. 119 – 122)
  • Viele unserer Gebäude, sowohl öffentliche wie auch private, erscheinen mir mit ihren fast unzählbaren Zimmern, großen Sälen und ihren Kellern zur Lagerung der Weine und anderer Friedensmunition, viel zu groß für ihre Bewohner. Sie sind so weitläufig und großartig, dass letztere wie Ungeziefer wirken, das sie befallen hat. (S. 153)
  • Sollte ich mich nicht auch über die Fülle des Unkrauts freuen, dessen Samen die Kornkammern der Vögel sind? (S. 182)
  • Natürlich zahlten diejenigen [im Dorf], deren Häuser die ersten Plätze in der Reihe einnahmen, wo sie am meisten sehen und gesehen werden und den ersten Hieb austeilen konnten, für ihren Standort die höchsten Preise. (S. 184)
  • Wie ich bereits an anderer Stelle erwähnte, zahlte ich keine Steuern, denn ich wollte die Autorität eines Staates, der Männer, Frauen und Kinder vor dem Eingang seines Senatsgebäudes wie das liebe Vieh kaufte und verkaufte, nicht anerkennen. (S. 188)
  • Wenn alle Menschen so einfach leben würden wie ich damals, gäbe es meiner Überzeugung nach weder Diebstähle noch Raubüberfälle. So etwas kommt nur in einer Gemeinschaft vor, in der einige mehr als genug, die anderen hingegen zu wenig haben. (S. 189)
  • Die Vögel mit ihrem Gefieder und ihrem Gesang leben in Harmonie mit den Blumen, aber welcher junge Mann, welches junge Mädchen lebt im Einklang mit der wilden, üppigen Schönheit der Natur? Sie blüht ganz für sich allein, weit entfernt von den Städten, wo jene wohnen. Redet mir nicht vom Himmel! Ihr schändet die Erde. (S. 218)
  • Dabei sei ihm die Aussicht, täglich Kaffee, Tee und Fleisch genießen zu können, als Gewinn erschienen, als er nach Amerika gekommen war. Das einzige wahre Amerika aber sei dort, wo es dem Menschen freistehe, ein Leben zu führen, das ihm ermöglicht, ohne diese Dinge auszukommen, wo man vom Staat nicht gezwungen wird, Sklaverei, Krieg und andere kostspielige Unternehmungen zu unterstützen, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch dieser Dinge ergeben. (S. 224)
  • Ich verließ den Waldensee aus einem ebenso triftigen Grund wie es jener war, der mich hingeführt hatte; vielleicht in dem Gefühl, daß ich noch verschiedene andere Leben zu leben hätte und für dieses eine nicht mehr Zeit aufbringen könne. Es ist merkwürdig, wie leicht und unmerklich wir in eine bestimmte Route verfallen und sie zu einem ausgefahrenen Geleise für uns machen. (S. 348)
  • Im Hinblick auf das Künftige oder Mögliche sollten wir vollkommen offen und ohne etwas vorauszubestimmen leben, denn in dieser Richtung sind unsere Konturen unklar und verschwommen; so wie unser Schatten eine unmerkliche Diffusion gegen die Sonne zeigt. (350)
  • Wozu diese verzweifelte Jagd nach Erfolg, noch dazu in so waghalsigen Unternehmungen? Wenn ein Mensch nicht Schritt hält mit seinen Mitmenschen, dann kommt das vielleicht daher, daß er einen anderen Trommler hört. Soll er doch nach der Musik marschieren, die er vernimmt, einerlei aus welcher Ferne und aus welchem Takt. (S. 352)
  • Was feiern die Menschen eigentlich? Sie gehören alle irgendeinem Arbeitsausschuß an und verlangen stündlich, von jemandem eine Rede zu hören. (S. 356)
  • Es heißt, das Britische Reich sei sehr groß und angesehen, und die Vereinigten Staaten seien eine Weltmacht. Wir bedenken nicht, daß hinter jedem Menschen eine Flut steigt und sinkt, die imstande wäre, das Britische Reich wie einen Holzspan hinwegzuschwemmen, wenn ihr je der Gedanke käme. (S. 359)

Unter diesem Link gibt es eine - wie ich finde - gelungene Rezension und Beschreibung des Buches „Walden“:


Auch ein Ort für Aussteiger? Die Röhren des irakisch-deutschen Installationskünstlers Hiwa K (gesehen auf der Documeta 14):



















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