"H.D. Thoreau: Walden" - Larvenvergleiche und Achtsamkeit

H.D. Thoreau baut sich eine Hütte im Wald und lebt dort für 2 Jahre. Das könnte eine spannende Geschichte werden, ist aber alles, was „Walden“ (1854) an Handlung zu bieten hat. Die Glücksmomente, die das Buch trotzdem für seine Leserinnen (Männer selbstverständlich mitgemeint) bereit hält, haben ihren Ursprung in einem Geflecht aus Lebensweisheiten, deren Kern sich folgendermaßen zusammenfassen lässt:
  • Finde heraus, wer du bist und was du willst, bevor du anfängst Ziele und Pläne zu verfolgen, die nicht deine eigenen sind! (Oder in einer dem Autor sehr nahen allegorischen Sprache: Finde heraus, welcher dein Weg ist, bevor du auf ausgetretenen Pfaden wanderst!)
  • Befreie dich selbst, bevor du andere oder gar die Welt befreist! (Muss ich mich von meiner Familie eigentlich auch befreien? Mein "Genius" kann mich morgens gar nicht wecken, weil die das immer machen)
  • Übertrage nicht deine eigenen Bedürfnisse auf andere. Wenn du Menschen etwas geben willst, gib nur das, was sie am meisten brauchen! „Philantropie ist nicht Liebe zum Mitmenschen im breitesten Sinn“ und auch große Zuwendung kann Elend erzeugen. (Das sollte mal jemand Bill und Melinda Gates erklären.)
  • Reduziere das, was du brauchst auf das, worum du dich selbst kümmern oder was du selbst herstellen kannst und nutze es so lange wie möglich! (Denn mehr Arbeitsteilung führt zu weniger Selbstständigkeit. Deshalb habe ich mir nach dieser Passage auch selbst die Haare geschnitten. Kein Scherz!)
  • Wer wenig besitzt, kann besser denken. (Auch die griechischen Philosophen -also wer genau ist jetzt auch egal, Platon, Aristoteles, Epikur, Sokrates oder Diogenes über Einzelheiten wird die Leserin im Unklaren gelassen- besaßen fast nichts und was Besseres als deren Schriften hat die Welt wahrscheinlich bis heute nicht zustande gebracht, außer vielleicht die Baghavad Gita. Das ist dieses uralte hinduistische spirituelle Superwerk, sozusagen das indische Nibelungenlied. Das findet Thoreau auch schön.)
  • Höre nicht auf Andere! (Denn schon im 19. Jahrhundert hatten selbst die Alten keine echten Wahrheiten mehr parat. Was echt ist, muss nicht begründet werden, denn Wahrheit gibt sich von selbst zu erkennen. Das weiß sogar Trump.)
  • Weniger Genuss, Fleisch, Prunk und Protz! Den Sinn für wahre Schönheit findet man in der Betrachtung von Natur. (Gut, aber mir reicht Vogelgezwitscher als Musik nicht und da ich von Judith Holofernes lyrisch-musikalisch verdichtet die besten Aussagen dieses Buches hören kann, gefällt mir elektronischer Schnick-Schnack ganz gut.)
  • Lernen darf nicht mit der Kindheit enden (und nicht allein im Wald).
Kaum zu glauben, dass diese Thesen aus dem 19. Jahrhundert stammen. Sie könnten auch in der „Flow“ oder einer anderen Zeitschrift mit schönen Mandalas zum Ausmalen für Erwachsene zu finden sein. Versteht mich nicht falsch, die Thesen sind nicht mein Problem. Da bin ich ganz bei ihm, wie man heute so wohlmeinend sagt. Nur reicht das nicht für 474 Seiten. Wäre das Buch ein Roman mit einer Handlung, eingebettet in Thesen der Achtsamkeit, könnte ich mich dafür begeistern. Kunst hat schließlich nicht den Anspruch einer stichhaltigen Theorie und muss sich nicht bis ins Detail erklären.
Ganz in meinem Sinn wäre auch eine philosophische Abhandlung, in der diese klugen Gedanken gegen mögliche Einwände verteidigt würden mit stichhaltigen Argumenten statt erklärenden Allegorien, wie „ein starker Esser ist ein Mensch im Larvenzustand“ (Weil nämlich die Insekten, bevor sie zu ihrer Bestimmung “Insekt“ kommen, im Larvenzustand viel mehr essen, ist auch beim Menschen das Bedürfnis nach viel Essen ein Zeichen von Unfertigkeit. Logisch? Nein!)
Gut, vielleicht handelt es sich doch um ein Tagebuch, bei dem sich der missionarische Erzähler mal innerhalb und mal hinter der erzählten Zeit befindet und deshalb gerne zwischendurch in der Vergangenheit schreibt. Mein Geschmack ist das nicht.
Und als Anleitung zum Wohlfühlen ohne Gemeingültigkeit, die im besten Fall für ein paar gute Ideen sorgt, lese ich dann doch lieber die „Flow“, aber die gab es ja damals noch nicht.
Was von „Walden“ und dem modernen Wust aus Coaching, Achtsamkeit und Yoga solcher Zeitschriften bleibt, ist die Frage nach dem richtigen Leben im Falschen. Ist es moralisch vertretbar, sich in erster Linie um sich selbst, statt um die Gesellschaft zu kümmern? Wenn alle mit wenig leben bleibt mehr übrig schon klar, aber ist das Private so politisch, dass wir ohne Blick auf gesellschaftliche Strukturen auskommen? Muss der Mensch erst mit sich im Reinen sein und seine Ziele klar im Bewusstsein haben, um die Welt sinnvoll zu verändern? Keine Ahnung, aber vielleicht nehme ich mir erstmal eine Auszeit im Wald:
Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, daß alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.“
So sehr mich das Buch genervt hat, dieser Vorsatz klingt verlockend.

Kommentare

  1. Zum Ausgleich hier noch eine Podcast-Empfehlung: SWR2 Wissen hat eine Folge zu Thoreau, die den Mann und sein Werk etwas objektiver beleuchtet. Dauert eine halbe Stunde und zeigt vielleicht auch, warum unsere Meinungen so auseinander gehen. http://swrmediathek.de/player.htm?show=37db50d0-625d-11e7-9bd8-005056a12b4c

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